Dinah, die Weihnachts-Hure
Mein Vater war der festen Überzeugung, nichts bilde den Charakter besser heran als ein Job nach der Schule. Er selbst hatte mit dem Schlitten Zeitungen ausgetragen und Lebensmittel an die Tür gebracht und seht ihn euch an! Meine ältere Schwester Lisa und ich entschieden, wenn harte Arbeit seinen Charakter geprägt hatte, wollten wir nichts damit zu tun haben. «Danke, aber danke nein», sagten wir.
Als zusätzlichen Ansporn strich er uns das Taschengeld und ein paar Wochen später arbeiteten sowohl Lisa als auch ich in Cafeterias. Ich wusch Geschirr im Piccadilly, während Lisa das Personal an den Warmhalteplatten im K & W verstärkte. In Raleighs erstem überbauten Einkaufszentrum gelegen, war ihre Cafeteria ein Klubhaus für die ortsansässigen älteren Mitbürger, die einen ganzen Nachmittag über einer einzigen Portion Reispudding gekauert verbringen konnten. Das K & W hatte seine beste Zeit hinter sich, wogegen meine Cafeteria im funkelnagelneuen Crabtree Valley lag, einem früheren Sumpf, der ihre Mall aussehen ließ wie einen staubigen Marktplatz für primitive Stämme. Das Piccadilly hatte rote Samtwände und einen Speisesaal, der von künstlichen Fackeln erleuchtet war. Eine Ritterrüstung markierte den Eingang zu diesem Schloss der Schlemmerei, allwo, wie man uns gesagt hatte, der Kunde immer König war.
Als Tellerwäscher verbrachte ich meine Schichten damit, Tabletts von einem Fließband zu wuchten und ihren Inhalt in eine enorme, bösmäulige Maschine zu füttern, welche brüllte und spie, bis ihre Beschickung, frei von erstarrtem Fett und Tunk, dampfend auf der anderen Seite wieder herauskam, wodurch meine Brille beschlug und die Luft sich mit dem barschen Geruch von Chlor füllte.
Hitze und Lärm konnten mir gestohlen bleiben, aber davon abgesehen, machte mir mein Job Spaß. Die Arbeit beschäftigte meine Hände, aber der Kopf blieb frei für wichtigere Dinge. Manchmal paukte ich die Liste unregelmäßiger spanischer Verben, die ich über der Spüle angebracht hatte, aber meistens gab ich mich Phantasien über eine Fernsehkarriere hin. Ich träumte davon, eine Fernsehserie zu kreieren und in ihr die Hauptrolle zu spielen, die Sokrates & Konsorten heißen sollte und in der ich mich in Begleitung eines brillanten und loyalen Nasenaffen namens Sokrates von Ort zu Ort begeben sollte. Wir würden keinen Streit suchen, aber dem Streit würde es Woche für Woche gelingen, uns zu finden. «Die Augen, Sokrates, immer zwischen die Augen», schrie ich dann während einer unserer zahlreichen Kampfszenen.
Vielleicht schlug mir in Santa Fe jemand einen schweren Krug über den Kopf und ich verlor das Gedächtnis. Irgendwo in Utah fand Sokrates vielleicht einen Ranzen mit wertvollen Münzen, oder er freundete sich mit einem Turbanträger an, aber gegen Ende jeder Folge sollte uns klarwerden, dass das wahre Glück oft dort lacht, wo man es am wenigsten erwartet. Es konnte sich in Form einer milden Brise oder einer Handvoll Erdnüsse offenbaren, aber wenn es kam, würden wir es mit der uns eigenen volkstümlichen Weisheit am Schopfe packen. Ich hatte es so geplant, dass die letzten Momente jeder Episode Sokrates und mich vor einem prunkvollen Sonnenuntergang stehend antreffen sollten, während ich so- wohl meinen Freund als auch die Zuschauer daheim an die Lektion erinnerte, die ich gelernt hatte. «Mir ist plötzlich klargeworden, dass es Dinge gibt, die wertvoller sind als Gold», mochte ich dann wohl sagen, wobei ich einen Falken beobachtete, der hoch oben über eine lila Bergzinne dahinglitt. Die Episoden mit Handlung zu versehen war nicht schwerer als das Besteck zu sortieren; schwierig war es, sich die hochwichtige Erleuchtung auszudenken. «Mir ist plötzlich klargeworden, dass …» Dass was? Mir wurde kaum je was klar. Gelegentlich wurde mir klar, dass ich ein Glas zerbrochen oder zu viel Spülmittel in die Maschine gefüllt hatte, aber die größeren Themen entzogen sich mir meist.
Wie verschiedene andere Cafeterias in Raleigh stellte auch das Piccadilly oft ehemalige Strafgefangene ein, deren Jobs von Bewährungshelfern und ABM-Leuten vermittelt wurden. Während technischer Pausen stand ich oft in ihrem Teil der Küche herum und hoffte, dass sich mir, wenn ich diesen Verbrechern lausche, etwas Profundes enthüllt. «Mir ist plötzlich klargeworden, dass wir alle in jenem Gefängnis eingekerkert sind, welches als der menschliche Geist bekannt ist», ließ sich sinnend sagen, oder: «Mir ist plötzlich klargeworden, dass die Freiheit vielleicht die größte Gabe von allen war.» Ich hatte gehofft, diese Leute wie Nüsse zu knacken, ihr Hirn zu durchstöbern und die Lektionen zu bergen, die sie gelernt hatten, angereichert um ein ganzes Leben voll Bedauern. Unglücklicherweise schienen die Männer und Frauen, mit denen ich zusammenarbeitete, nachdem sie den größten Teil ihres Lebens hinter Gittern verbracht hatten, nichts gelernt zu haben, außer wie man sich drückt.
Kessel kochten über, und Steaks verkohlten routinemäßig, während meine Arbeitskollegen sich in die Vorratskammer stahlen, um zu rauchen, Karten zu spielen oder es – manchmal – miteinander zu treiben. «Mir ist plötzlich klargeworden, dass die Menschen faul sind», sagte dann meine nachdenkliche Fernsehstimme. Das hatte kaum den ganz großen Nachrichtenwert, und als Schlusswort würde es sicher nicht die Herzen meines Fernsehpublikums erwärmen können –, welches, per Definition, ohnehin nicht das aktivste war. Nein, meine Botschaft musste optimistisch und erbaulich sein. Freude, dachte ich und knallte die schmutzigen Teller gegen den Rand des Mülleimers. Was bringt den Menschen Freude?
Als Weihnachten näher kam, halbierte sich meine wertvolle Zeit des Phantasierens. Das Einkaufszentrum wimmelte jetzt von hungrigen Kauflustigen, und alle drei Minuten hatte ich den stellvertretenden Geschäftsführer am Hals, der nach mehr Kaffeetassen und Beilagentellern schrie. Die Festtagskundschaft bildete eine laute und stetige Schlange, die am Wappen vorbei bis zur Rüstung am Eingang stand. Sie hatten sich lustige Nikoläuse an ihre Narrenhemden geheftet und schleppten übergroße Taschen, die vor elektrischem Werkzeug und Käsesortimenten überquollen, die sie für Freunde und Verwandte gekauft hatten. Der Anblick so vieler Menschen, Fremder, deren schiere Anzahl jenes Bedeutsame, das zu erfinden ich mich so bemühte, zerfraß, machte mich traurig und verzweifelt. Woher kamen sie und warum gingen sie nicht einfach wieder nach Hause? Ich schnappte mir ihre Tabletts vom Fließband, ohne mich ein einziges Mal zu fragen, wer diese Menschen waren und warum sie ihre panierten Koteletts nicht aufgegessen hatten. Sie bedeuteten mir nichts, und wenn ich sah, wie sie sich in der Schlange auf die Kasse zubewegten, wurde es offenbar, dass dies Gefühl auf Gegenseitigkeit beruhte. Sie würden sich nicht einmal an die Mahlzeit erinnern, geschweige denn an den Menschen, der sie mit blitzsauberen und siedend heißen Tellern versorgt hatte. Woran lag es, dass ich wichtig war und sie nicht? Es musste etwas geben, was uns voneinander trennte.
Ich hatte mich immer auf Weihnachten gefreut, doch jetzt kam mir meine Begeisterung schal und schofel vor. Wenn ich nach der Arbeit die Cafeteria verließ, sah ich sogar noch mehr Menschen, die aus den Läden und Restaurants schwärmten wie Bienen aus einem brennenden Bienenstock. Hier waren die jungen Paare mit ihren Zipfelmützen und die Familien, die sich beim Springbrunnen drängten, alle mit ihren Einkaufslisten und markierten GeldUmschlägen. Kein Wunder, dass die Chinesen sie nicht auseinanderhalten konnten. Sie waren Schafe, dumme Tiere, von der Natur darauf programmiert, sich zu paaren und zu grasen und ihre Wünsche dem fettleibigen pensionierten Schulleiter entgegenzublöken, der mit seinem Arsch auf dem erbärmlichen Nordpol des Einkaufszentrums saß.
Mein Widerwille wäre fast mit mir durchgegangen, bis ich in ihrem Verhalten eine Lösung für meine Identitätskrise erkannte. Sollten sie doch meterweise Geschenkpapier und grelle Strümpfe mit Monogramm haben: Wenn es ihnen etwas bedeutete, so wollte ich nichts damit zu tun haben. Dies Jahr sollte ich der Eine ohne Einkaufstaschen sein, der Eine, der Schwarz trug, aus Protest gegen ihr oberflächliches Kommerzdenken. Meine schiere Verweigerung würde mich von ihnen absetzen und diese Menschen dazu zwingen, sich selbst in sicherlich schmerzhafter Weise infrage zu stellen. «Wer sind wir?», würden sie fragen und den Zierrat vom Christ- baum klauben. «Was ist bloß aus uns geworden, und warum können wir nicht vielmehr so sein wie der düstre Bursche, der in der Piccadilly-Cafeteria Teller wäscht?»
Mein Boykott diente auch einem praktischen Zweck, da ich in diesem Jahr kaum mit Geschenken zu rechnen hatte. Um Geld zu sparen, hatte meine Familie beschlossen, etwas Neues auszuprobieren und Namen zu ziehen. Durch diese grausame Lotterie lag mein Schicksal in Lisas Händen, deren Vorstellung von einem anständigen Geschenk sich in sechs originalverpackten Blitzlichtbatterien oder einer Duftkerze in Form eines Kartoffelbovists erschöpfte. Patent und gutgelaunt normal, wie sie war, verkörperte Lisa alles, was ich deprimierend fand. Nichts unterschied sie von den Tausenden anderen Mädchen, die ich jeden Tag zu sehen bekam, aber das störte sie überhaupt nicht. In ihrem Bestreben, typisch zu sein, hatte sie mit fliegenden Fahnen – in gedeckten Tönen – gewonnen. Im Gegensatz zu mir würde sie sich nie tiefere Gedankengänge gestatten oder mit einem Nasenaffen in ferne Länder reisen. Nicht nur sie nicht, niemand. Genau wie alle anderen hatte sie ihre Seele gegen ein läppisches Weihnachtsgeschenk eingetauscht und musste nun die Konsequenzen tragen.
Die Tage wurden festlicher und mit ihnen wuchs meine Ungeduld. Vier Tage vor Weihnachten sollten wir uns ins Esszimmer setzen, um Lisas achtzehnten Geburtstag zu feiern, als sie von jemandem angerufen wurde, der sich wie eine ausgewachsene Frau mit einem Mund voller Kieselsteine anhörte. Als ich fragte, wer denn dran sei, zögerte die Frau, bevor sie sich als «eine Freundin. Ich bin eine gottverdammte Freundin, alles klar?», vorstellte. Das erregte meine Aufmerksamkeit, denn soweit ich wusste, hatte Lisa keine erwachsenen Freunde oder Freundinnen, seien sie nun gottverdammt oder nicht. Ich gab ihr den Hörer und beobachtete, wie sie das Telefon in die Einfahrt trug und dabei die Schnur bis zum Zerreißen straffte. Dies war streng verboten, und weil mir gerade danach war, ein bisschen Stunk zu machen, petzte ich: «Dad, Lisa ist mit dem Hörer nach draußen gegangen, und gleich reißt sie die Telefonschnur aus der Wand.»
Er wollte aus seinem Sessel aufspringen, aber meine Mutter sagte: «Lass sie doch um Gottes willen zufrieden; sie hat heute Geburtstag. Wenn das Telefon kaputtgeht, kauf ich dir zu Weihnachten ein neues.» Sie bedachte mich mit dem Blick für achtbeinige Geschöpfe unter dem Küchenspülstein. «Du musst immer in der Scheiße stochern, stimmt’s?»
«Sie spricht aber mit einer Frau!», sagte ich.
Meine Mutter drückte ihre Zigarette auf dem Teller aus. «Na und, du auch.»
Lisa kam gehetzt und aufgeregt an den Tisch zurück und fragte meine Eltern, ob sie den Kombi haben darf. «David und ich sind in spätestens einer Stunde zurück», sagte sie und griff sich unsere Mäntel aus der Garderobe.
«Welcher David?», fragte ich. «Dieser David bleibt, wo er ist.» Ich hatte gehofft, den Abend in meinem Schlafzimmer zu verbringen und am Pastellporträt von Sokrates zu arbeiten, das ich mir still zu Anti-Weihnachten schenken wollte. Wir standen in der dunklen Einfahrt und verhandelten, bis ich mich bereit erklärte, sie zu begleiten, ohne Fragen zu stellen, Kostenpunkt: drei Dollar, sowie uneingeschränkte Benutzung ihres neuen Föns. Nachdem das geregelt war, stiegen wir ein und fuhren an den hell geschmückten Häusern der Nordstadt vorüber. Normalerweise verlangte Lisa die strikte Kontrolle über das Radio. Beim Anblick meiner Finger, die sich der Senderwahl näherten, haute sie mir auf die Hand und drohte, mich aus dem Auto zu werfen, aber heute Abend machte sie mir keinen Kummer und beschwerte sich nicht einmal, als ich eine hiesige Talkrunde einstellte, die sich eindringlich mit High-SchoolBasketball beschäftigte. Ich konnte Basketball nicht ausstehen und hatte das nur eingestellt, um sie zu ärgern. «Sieh dir diese Spartaner an», sagte ich und knuffte ihr die Schulter. «Meinst du, sie haben den nötigen Pep, beim Lokalderby die Kobolde zu schlagen?»
«Mir wurscht. Weiß nicht. Vielleicht.»
Etwas hatte sie eindeutig meinem Zugriff entzogen, das machte mich rasend, und das, was mich rasend machte, fühlte sich stark an wie Eifersucht. «Was ist denn nun? Treffen wir jetzt die Mutter deines Freundes? Wie viel musst du ihr zahlen, damit er mit dir ausgehen darf? Du hast einen Freund, stimmt’s?»
Sie ignorierte meine Fragen und murrte still vor sich hin, als sie uns am Kongressgebäude von North Carolina vorbei in einen besiegten Stadtteil fuhr, in welchem die Veranden nachgaben und an den meisten Fenstern nicht Gardinen und Vorhänge hingen, sondern Laken und Handtücher. In solchen Gegenden wurden Menschen erstochen; das hörte ich die ganze Zeit in meinen Rundfunksendungen, bei denen man anrufen konnte. Wäre mein Vater gefahren, hätten wir alle Türen verriegelt, die STOP-Schilder ignoriert und wären so schnell wie möglich durchs Gelände gebraust. So machte man das, wenn man schlau war.
«Na bitte.» Lisa fuhr rechts ran und parkte hinter einem Lieferwagen, dessen Halter seinen Platten mit einer Taschenlampe untersuchte. «Es könnte hier ein bisschen mulmig werden, also tu, was ich dir sage, dann kommt hoffentlich niemand zu Schaden.» Sie schwang sich das Haar über die Schulter, stieg aus und trat gegen die Dosen und Flaschen, die den Bordstein säumten. Meine Schwester meinte es ernst, was es auch war, und in diesem Augenblick wirkte sie schön und exotisch und gefährlich dumm. GESCHWISTER ERSCHLAGEN! ZUM ZEITVERTREIB! würden die Schlagzeilen lauten. FESTTAGSLAUNE ENDET TÖDLICH.
«Vielleicht sollte jemand beim Auto warten», flüsterte ich, aber sie war Vernunftgründen nicht mehr zugänglich und stürmte mit ihren sinnvollen Schuhen in einer schroffen, entschlossenen Gangart davon. Sie hielt sich nicht mit Hausnummer oder Klingelschild auf; Lisa schien genau zu wissen, wohin sie wollte. Ich folgte ihr in ein dunkles Vestibül und eine Treppe hinauf, wo sie, ohne auch nur zu klopfen, eine nicht abgeschlossene Tür aufstieß und in ein dreckiges, überheiztes Zimmer drang, welches nach kaltem Rauch, saurer Milch und ernsthaft schmutziger Wäsche roch –, drei Aromen, welche, vereint, dazu angetan sind, die Farbe von den Wänden blättern zu lassen.
Dies war ein Ort, an dem Menschen Böses zustieß, welche eindeutig nichts als das Schlimmste verdient hatten. Der befleckte Teppich war mit Zigarettenstummeln bestreut, und von der Zimmerdecke hingen überfüllte, staubbedeckte Fliegenfänger wie Vorhänge aus Perlschnüren. Am anderen Ende des Zimmers stand ein Mann neben einem umgestürzten niedrigen Tisch, beleuchtet von einer schirmlosen Lampe, die seinen Schatten, groß und bedrohlich, an die schmierige Wand zeichnete. Er war salopp mit T-Shirt und Unterhose bekleidet und hatte dünne, unbehaarte Beine von der gleichen Farbe und kieseligen Oberfächenbeschaffenheit wie bei einem im Geschäft gekauften Suppenhuhn.
Wir hatten offensichtlich gerade irgendein Unglücksritual unterbrochen, etwas, bei dem man Unflätiges rufen und gleichzeitig einen Halbschuh mit weißen Quastensenkeln gegen eine abgeschlossene Tür dreschen musste. Das nahm den Mann so vollständig in Anspruch, dass er ein paar Momente brauchte, bis er unsere Anwesenheit registrierte. Er blickte mit zusammengekniffenen Augen in unsere Richtung, ließ den Schuh fallen und stützte sich am Sims des Kamin-Imitats ab.
«Wenn das nicht Lisa Verdammtescheisse Sedaris ist. Hätt ich gleich wissen können, dass dieses verdammte Scheißweib ein Scheißweib wie dich anruft.»
Ich wäre weniger schockiert gewesen, wenn ein Seehund meine Schwester namentlich angesprochen hätte. Woher kannte sie diesen Mann? So betrunken, dass er nur noch taumeln konnte, unternahm dieser verkommene, versoffene Popeye einen Ausfall, und Lisa nahm eilig die Herausforderung an. Dann duckte ich mich und beobachtete, wie sie ihn am Hals packte und ihn zu Boden bzw. auf den umgestürzten Tisch warf, bevor sie die Fäuste zur Deckung hochnahm und tänzelnd einen engen Kreis beschrieb, bereit, es mit versteckten Neuankömmlingen aufzunehmen. Es war, als hätte sie ihr ganzes Leben in einen schwarzen gi gekleidet verbracht und in Erwartung dieses Augenblicks Dachlatten mit den bloßen Händen zertrümmert. Weder zauderte sie, noch rief sie um Hilfe, sie verpasste ihm lediglich ein paar flinke Tritte in die Rippen und fuhr in ihrer Mission fort.
«Ich hab doch nichts gemacht», stöhnte der Mann und sah mich mit blutunterlaufenen Augen an. «Du da, sag dem Scheißweib, ich hab doch gar nichts gemacht.»
«Wie belieben?» Ich bewegte mich unmerklich Richtung Tür. «Gottchen, ich weiß gar nicht, was ich dazu sagen soll. Ich bin nur, wissen Sie, lediglich mitgekommen, auf eine kleine Spritztour.»
«Bewache ihn!», gellte Lisa.
Ihn bewachen? Wie? Wofür hielt sie mich? «Verlass mich nicht», schrie ich, aber sie war bereits weg, und plötzlich war ich allein mit diesem zerschmetterten Mann, der sich den Brustkorb massierte und mich anbettelte, ihm seine Zigaretten vom Sofa zu holen.
«Los, hol sie mir, Junge. Verdammte Scheißweiber. Mein lieber Schieber, das sind Schmerzen.»
Ich hörte die Stimme meiner Schwester und sah, wie sie aus dem Hinterzimmer fegte, eine clowneske, tränenbefeckte Frau unbestimmten Alters im Schlepp. Ihr Gesicht war runzlig und aufgedunsen. Der dicke, fette, marmorierte Körper hatte schon reichlich Meilen auf dem Tacho, aber ihre Kleidung passte nicht zur Jahreszeit und war auf absurde Weise jugendlich. Während die Freundinnen meiner Mutter zu den Feiertagen mit Vorliebe Maxiröcke und türkise Hopi-Halsketten trugen, hatte diese Frau den Versuch unternommen, die Verwüstungen, welche die Zeit angerichtet hatte, mit Hot Pants aus Jeansstoff und passender Weste wettzumachen, welche, von einem System überkreuzgeschnürter Wildlederstrippen zusammengehalten, einen gründlichen Blick auf ihre massigen Hängebrüste zuließ.
«Raus!», rief Lisa. «Los, mach schon!»
Ich war längst auf dem Wege.
«Meine Schuhe und, ach, ich nehm besser noch eine Jacke mit», sagte die Frau. «Und wo ich gerade dabei bin …» Ihre Stimme verklang, als ich die Treppe hinunterrannte, an den anderen ebenso dunklen und dünnen Wohnungstüren vorbei, hinter denen Menschen mit ihrem Geschimpfe das Gekreisch der Fernseher übertönten. Auf der Straße rang ich nach Luft und fragte mich, wie oft meine Schwester inzwischen niedergestochen oder -geknüppelt worden war, als ich hörte, wie die Fliegendrahttür zugeknallt wurde, und sah, wie Lisa auf der Veranda erschien. Sie blieb kurz auf dem Treppenabsatz stehen und wartete, während die Frau eine Jacke anzog und ihre Füße in ein paar Schuhe stopfte, die in Form und Farbe zwei identischen Farbbüchsen ähnelten. Zum Rennen angehalten, torkelte Lisas Freundin wie auf Stelzen dahin. Es war ein unbeholfener, nutzloser Gehstil, und bei jedem Schritt wedelte sie mit den Fingern, als spielte sie Klavier.
Zwei junge Männer, die eine Matratze trugen, kamen vorbei, der eine drehte sich um und schrie: «Schafft die Hu von der Straße!»
Wären wir in einer reicheren oder ärmeren Gegend gewesen, hätte ich den Boden nach einem Garten- oder landwirtschaftlichen Gerät abgesucht, von denen man nie genau weiß, wie sie heißen, um nicht wieder auf eins draufzutreten und mir mit dem Stiel die Lippe zu spalten. Hu. Ich hatte das Wort oft bei der Arbeit von den Köchen gehört, die dabei gerieben blickten und wissend kicherten, ganz wie die beiden jungen Männer mit der Matratze. Ich brauchte eine Sekunde, bis mir klarwurde, dass sie entweder Lisa oder ihre Freundin meinten, die sich gerade hingehockt hatte, um ein Loch in ihren Netzstrümpfen zu untersuchen. Eine Hure. Von beiden möglichen Nominierten schien mir die Freundin die wahrscheinlichere Kandidatin zu sein. Bei der Erwähnung des Wortes hatte sie den Kopf gehoben und leicht abgewunken. Diese Frau also war’s, und ich studierte sie, wobei mein Atem fach ging und sichtbar war in der kalten, dunklen Luft. Wie ein Heroinsüchtiger oder ein Massenmörder war für mich eine Prostituierte exotischer, als jeder Promi jemals hoffen konnte. Man sah sie in der Innenstadt, nach Einbruch der Dunkelheit, wie sie ihre scharfgeschnittenen Gesichter in die Fenster von Autos steckten, deren Fahrer auf Leerlauf geschaltet hatten. «He, Schnucki, wie viel verlangst du für einmal Abschmieren?», rief mein Vater. Ich wollte immer, dass er mal rechts ranfährt, damit man sich das genauer ansehen kann, aber nachdem er seinen kleinen Kommentar gemacht hatte, drehte er das Fenster hoch und raste, leise in sich hineinlachend, davon.
«Dinah, das ist David. David, Dinah.» Lisa stellte uns einander vor, nachdem wir uns im Auto niedergelassen hatten. Offenbar arbeiteten die beiden im K & W und hatten sich angefreundet.
«Ach, dieser Gene ist ein richtiger Hitzkopf», sagte Dinah. «Er will mich ganz für sich, hab ich dir ja erzählt, und er liebt mich nun mal; was willst du machen. Vielleicht fahren wir einfach ein paarmal um den Block, damit er sich ein bisschen abkühlen kann.»
Sie zündete sich eine Zigarette an, ließ sie fallen und senkte den Kopf mit der hochtoupierten Frisur, bevor sie sagte: «Naja, ist auch nicht das erste Auto, das ich in Brand gesteckt habe.»
«Hab sie gefunden!» Lisa hielt sich die Zigarette an die Lippen, inhalierte tief und ließ den Rauch durch die Nasenlöcher wieder heraus. Ein Anfänger wäre daran erstickt, aber sie paffte wie ein verwitterter alter Prof. Welche weiteren Tricks hatte sie in letzter Zeit gelernt? Hatte sie ein Päckchen Heroin in der Tasche? Hatte sie sich angewöhnt, Messer zu werfen oder Billard zu spielen, während wir in unseren Bettchen schliefen? Sie starrte nachdenklich auf die Fahrbahn und fragte dann: «Dinah, bist du betrunken?»
«Jawoll, Ma’am, das bin ich», antwortete die Frau. «Das kann man wohl sagen.»
«Und Gene war auch betrunken, hab ich recht?»
«Ein kleines bisschen angeheitert», sagte Dinah. «Aber das ist so seine Art. Im Winter betrinken wir uns gern, wenn sonst nichts zu tun ist.»
«Und ist das gut für deine Wiedereingliederung? Sind Besäufnisse und Schlägereien das richtige, wenn man keinen Ärger mehr kriegen will?»
«Wir haben doch nur ein bisschen rumgemacht. Es ist dann ein bisschen außer Kontrolle geraten, mehr war nicht.» Lisa schien es nichts auszumachen, wenn die Frau sich blöd vorkam. «Gestern hast du mir bei den Warmhalteplatten gesagt, du willst dich endlich von dem miesen kleinen Schweinehund trennen und in die Tranchierabteilung hocharbeiten. Man muss eine ruhige Hand haben, wenn man den ganzen Tag Fleisch tranchieren will, meinst du nicht?»
Dinah fuhr sie an: «Ich weiß nicht mehr alles, was ich bei den gottverdammten Warmhalteplatten gesagt habe. Was soll das, Kleine, ich hätte doch nie angerufen, wenn ich geahnt hätte, dass du mich halbtot laberst. Hier kannst du wenden; ich will nach Hause.»
«Keine Sorge, ich bring dich nach Hause», sagte Lisa.
Der traurige Stadtteil lag bald weit hinter uns, Dinah drehte sich noch ein paarmal um, blinzelte, konnte nichts erkennen, bis ihre Augen komplett geschlossen waren und sie einschlief. «Mom, das ist Dinah. Dinah, das ist meine Mutter.»
«Na, Gott sei Dank», sagte meine Mutter, als sie unserem Gast aus der verschossenen Kaninchenfelljacke half. «Ich hatte schon Angst, Sie wären einer dieser gottverdammten Adventssänger. Ich hatte gar nicht mit Besuch gerechnet; ich sehe bestimmt ganz schrecklich aus.»
Sie sah schrecklich aus? Dinahs Augen-Make-up war so verschmiert, dass sie einem schwachsinnig kostümierten Panda ähnelte, und meine Mutter entschuldigte sich für ihr Aussehen? Ich nahm sie ganz kurz beiseite.
«Hure», flüsterte ich. «Diese Dame ist eine Hure.» Ich bin nicht sicher, welche Reaktion ich damit bezweckte, aber Schock wäre ganz schön gewesen. Stattdessen sagte meine Mutter: «Na, dann sollten wir ihr wahrscheinlich etwas zu trinken anbieten.» Sie ließ mich im Esszimmer stehen, und ich hörte zu, wie sie der Frau in alphabetischer Reihenfolge eine Liste von Angeboten machte: «Wir haben Bier, Bourbon, Gin, irischen Whiskey, Ouzo, Rum, Scotch, Wein, Wodka und irgendwas dickes Gelbes in einer Flasche ohne Etikett.»
Als Dinah ihren Cocktail auf der sauberen Festtagstischdecke verschüttete, entschuldigte sich meine Mutter, als wäre es ihre Schuld, weil sie das Glas zu gut eingeschenkt hatte. «Dazu neige ich nämlich manchmal. Hier, ich mache Ihnen rasch einen neuen.»
Als sie ein frisches, ungewohntes Lallen im Haus hörten, kamen mein Bruder und meine Schwestern eilig aus ihren Zimmern und versammelten sich, um Lisas Freundin zu untersuchen, welche die Aufmerksamkeit sichtlich genoss. «Engel», sagte Dinah. «Ihr seid eine ganze Meute gottverdammter Engel.» Sie war von Bewunderern umringt, und mit jeder Frage, jedem Kommentar, erhellte sich ihr Blick.
«Was ist Ihnen lieber», fragte meine Schwester Amy, «die Nacht mit fremden Typen zu verbringen oder in einer Cafeteria zu arbeiten? Was sind die Gefängnisaufseher für Menschen? Tragen Sie gelegentlich eine Waffe bei sich? Auszuschweißendem berechnen Sie, wenn jemand sich nur auspeitschen lassen will?»
«Erst die eine Frage, dann die nächste», sagte meine Mutter. «Lasst sie in Ruhe antworten.»
Tiffany probierte Dinahs Schuhe an, während Gretchen in ihrer Jacke posierte. Der Geburtstagskuchen wurde aufgetragen und die Kerzen wurden angezündet. Mein sechsjähriger Bruder leerte Aschenbecher aus und errötete vor Stolz, als Dinah seine Tüchtigkeit lobte. «Dieser hier sollte in der Cafeteria arbeiten», sagte sie. «Er hat die Arme eines Geschirrabräumers und Augen wie ein stellvertretender Geschäftsführer. Dir entgeht rein gar nichts, was, Süßer? Mal sehen, ob er einer alten Dame schon nachschenken kann.»
Vom Lärm geweckt, kam mein Vater aus dem Keller, wo er in Unterwäsche vor dem Fernseher gedöst hatte. Sein Eintreffen markierte im allgemeinen das Ende der Party. «Was zum Teufel treibt ihr hier um zwei Uhr morgens?», rief er gern. Es war seine Gewohnheit, drei bis vier Stunden zur tatsächlichen Uhrzeit zu addieren, um der Liederlichkeit, der er uns zieh, noch mehr Gewicht zu verleihen. Die Sonne mochte noch am Himmel stehen –, er behauptete, es wäre Mitternacht. Zeigte man auf die Uhr, warf er die Hände hoch und sagte: «Redet keinen Scheiß! Ab ins Bett.»
Heute Abend war er besonders stinkiger Laune und kündigte seine Ankunft lange an, bevor er den Raum betrat. «Was macht ihr da oben? Steptanz? Wollt ihr eine Schau abziehen, wollt ihr das? Für heute Nacht ist das Theater geschlossen. Geht damit auf Tournee; es ist vier Uhr morgens, verdammt noch mal.»
Wir wandten uns instinktiv an unsere Mutter. «Komm nicht in die Küche», rief sie. «Wir wollen nicht, dass du sie siehst … äh … deine Weihnachtsgeschenke.»
«Meine Geschenke? Tatsächlich?» Seine Stimme wurde so sanft wie ein Miauen. «Na, dann macht mal weiter.»
Wir lauschten seinen Schritten, als er den Korridor entlang in sein Zimmer tappte, dann hielten wir uns den Mund zu und lachten, bis uns der Blick verschwamm. Längst heruntergeschluckte Kuchenstückchen statteten unserer Kehle einen erneuten Besuch ab, und unsere Gesichter, in den dunklen Fenstern widergespiegelt, glommen und vibrierten.
Jedes Beisammensein hat sein eigenes Zeitmaß. Als Erwachsener lenke ich mich damit ab, es herauszufinden, und ich fürchte den Zeitpunkt des unweigerlichen Abflauens. Die Gäste werden sich einmal zu oft wiederholen, oder die Drogen oder die Getränke gehen zur Neige, und es wird einem klar, dass das das einzige war, was man je gemeinsam hatte. Damals glaubte ich jedoch noch, so ein warmes und berauschendes Gefühl könnte ewig währen, und ich könnte, indem ich es vorbehaltlos umarmte, eine Annäherung an das gleiche sehnsuchtsvoll zufriedene Gefühl erreichen, welches Erwachsene bei der zweiten Bestellung verspüren. Ich hatte Lisa gehasst, war eifersüchtig auf ihr geheimes Leben gewesen, und jetzt, über meiner großen Tasse mit klumpigem Kakao, war ich sehr, sehr stolz auf sie. Überall in unserer Straße waren die Häuser mit Sperr- holz-Engeln und in bunte Glühbirnen gefassten Krippen dekoriert. Drüben in der Coronado Street hatte jemand Lautsprecher auf seinen Bäumen festgezurrt, die den Wald aus Zuckerstangen, den er neben seiner Einfahrt angepflanzt hatte, mit Weihnachtsliedern beschallten. Unsere Nachbarn würden früh aufstehen, die Einkaufszentren aufsuchen, sich geschenkverpackte Fusselrollen und bommelverzierte Golfschlägerschoner besorgen. Weihnachten würde kommen, und wir, die Bürger dieses Landes, würden uns um identische Bäume sammeln und unserer Freude mit abgenutzten Klischees Ausdruck verleihen. Truthähne würden rösten, bis sie einen harten, schellackähnlichen Überzug hatten. Schinken bekämen ein X eingeschnitzt und eine Fruchtglasur verpasst –, und das alles von mir aus herzlich gern. Sollte ich einen fahrbaren Staubsauger oder gar einen verrunzelten Nasenaffen bekommen, so hätte mich das auch nicht heftiger entzückt als das Wissen, dass wir die einzige Familie in dieser Gegend waren, die eine Prostituierte in der Küche hatte. Wenn ich von jetzt an hörte, wie der Weihnachtsmann «Ho ho ho!» rief, würde es sich für mich wie «Hu, Hu, Hu!» anhören und eine ganz andere Bedeutung haben; und ich würde es, wie meine übrige Familie, mit jenem Stammeszusammengehörigkeitsgefühl, das uns so auszeichnet, zu schätzen wissen. Plötzlich wurde mir das klar. Einfach so.